Sonntag, 5. Mai 2019

Soziale Innovationen in der Sozialwirtschaft

Ein Fachbeitrag von Prof. Dr. Michael Batz

Wenn von Innovationen die Rede ist, denken die meisten Menschen wohl zunächst an neue technische Produkte oder neue Dienstleistungen, wie vielleicht die neueste Generation von Smartphones, selbstfahrende Autos oder sprachgesteuerte Assistenzsysteme. Die Sozialwirtschaft ist dagegen eine Branche, die nicht unbedingt für ihre Innovationen bekannt ist. Zu Recht?

Was ist eine Innovation?

Eine einheitliche, allgemein anerkannte Definition für den Begriff der „Innovation“ existiert nicht. Weitgehend übereinstimmend werden aber zumindest in den Bereichen Wirtschaft und Technik zwei Merkmale des Innovationsbegriffs hervorgehoben. Bei dem ersten Merkmal handelt es sich um die sog. „Invention“, was soviel wie „Erfindung“ bedeutet, und darauf verweist, dass am Anfang einer Innovation meist eine Idee steht, die durch Forschung und Entwicklung oder Ausarbeitung in Form einer Konzeption in ein neuartiges Produkt oder eine neuartige Dienstleistung überführt werden konnte. Bei dem zweiten Merkmal handelt es sich um die sog. „Diffusion“, womit die Akzeptanz des neuen Produktes oder der neuen Dienstleistung am Markt bzw. der „Markterfolg“ gemeint ist. Eine kreative Idee an sich stellt daher eben so wenig eine Innovation dar, wie ein neuartiges Produkt oder eine neuartige Dienstleistung, das bzw. die niemand haben will. 



Manchmal steht am Anfang einer Innovation übrigens auch keine bestimmte Idee, sondern eine zufällige Entdeckung, die dann erst zu einer Innovation weitergedacht wird. Ein Beispiel eines solchen Zufalls ist die „Erfindung“ des Teebeutels. Der amerikanische Teehändler Thomas Sullivan soll Tee in kleine Seidenbeutel gefüllt haben, um diese als Teeproben an seine Kunden schicken zu können. Die Kunden aber dachten, dass der Beutel dazu vorgesehen war, den Tee darin zu belassen und hängten den Beutel direkt in das Wasser. Der heutige Teebeutel aus Filterpapier wurde schließlich wohl 1929 von Adolf Rambold für die Firma Teekanne erfunden. 

Innovationsgrade

Ein zentraler Aspekt jeder Innovation ist der Grad ihrer „Neuartigkeit“, der sog. „Innovationsgrad“. Vereinfacht gilt: je höher der Innovationsgrad, je innovativer das Produkt oder die Dienstleistung. Fraglich ist allerdings, auf welche Weise der Innovationsgrad eines Produktes oder einer Dienstleistung bestimmt werden kann. Auch hierzu wurden verschiedene Ansätze und Typologien entwickelt. 

Eine bekannte Einteilung des Innovationsgrades orientiert sich an den Aspekten der Neuartigkeit des Mittels (die Technologie oder die Art der Dienstleistungsgestaltung) und des Zwecks (der Nutzen) der Innovation. So wurde etwa mit dem Geldautomat eine neue technische Lösung (Mittel) eingesetzt, um den Kunden zu ermöglichen, Bargeld unabhängig von Öffnungszeiten abheben zu können (Zweck, Nutzen). Da beide Aspekte in zwei Ausprägungen („alt“/“neu“) gedacht werden können, lassen sich vier Innovationsgrade unterscheiden: 

Den geringsten Innovationsgrad weisen sog. “inkrementelle Innovationen“ auf. Hierbei handelt es sich um Weiterentwicklungen bestehender und am Markt bereits etablierter Produkte oder Dienstleistungen, bei denen das bisherige Lösungsprinzip im Kern zwar beibehalten, aber doch so optimiert wird, dass diese ihren Zweck besser als bislang erfüllen können. Beispiele hierfür wären die regelmäßige Verbesserung bestimmter Leistungsmerkmale bei Mobiltelefonen oder die Modellpflege in der Automobil- und Motoradbranche. 

Einen mittleren Innovationsgrad weisen sog. „Anwendungsinnovationen“ (auch „zweckinduzierte Innovationen“ genannt) auf, bei denen ein bereits bekanntes Lösungsprinzip dazu eingesetzt wird, um einen neuen Zweck zu erfüllen. Beispielsweise kam die GPS-Technologie zunächst im militärischen Bereich zum Einsatz, bevor sie später auch für zivile Zwecke, z.B. in Navigationssystemen für Autos oder für Ortungsdienste in Handys, nutzbar gemacht wurde.

Einen ebenfalls mittleren Innovationsgrad weisen die sog. „Lösungsinnovationen“ (auch „mittelinduzierte Innovationen“ oder „Technologieinnovationen“ genannt) auf. Hierbei wird ein bereits bekannter Zweck dadurch besser erfüllt, dass das bisherige Lösungsprinzip durch ein neues Prinzip ersetzt wird. Den Zweck, unterwegs Musik hören zu können, ohne andere Menschen damit zu belästigen, konnten bereits der „Walkman“ und später der „Discman“ erfüllen. Mit der Nutzung der mp3-Technologie konnte dieser Zweck jedoch deutlich besser erfüllt werden (kleinere Geräte, reduziertes Gewicht, mehr Speicherkapazität usw.). 

Den größten Innovationsgrad weisen sog. „radikale Innovationen“ (auch „disruptive Innovationen“ oder „Durchbruchsinnovationen“ genannt) auf. Hier kommt beides zusammen: Mit einem neuen Lösungsprinzip wird ein neuer Zweck erfüllt. Diese Innovationen können zu weitreichenden Veränderungen von Märkten, Geschäftsmodellen und Praktiken führen. Ein Beispiel hierfür wäre das iPhone von Apple, mit dem das Mobiltelefon zum „Smartphone“ und damit zum mobilen „Mini-Computer“ wurde. Der bereits erwähnte „Walkman“ wäre ebenfalls ein Beispiel einer solchen radikalen Innovation. 

Ob es sich bei einer Innovation um eine radikale Innovation oder um eine Anwendungs- oder Lösungsinnovation handelt, kann bisweilen unterschiedlich bewertet werden. Beispiele hierfür wären die Ablösung der analogen Fotografie durch Digitalkameras oder der Röhrenfernseher und Computer-Monitore durch Flachbildschirme. Da es sich in beiden Fällen um neue Lösungsprinzipen für einen bereits bekannten Zweck, nämlich der Fotografie oder der Visualisierung von Informationen, handelt, könnten diese Innovationen als Beispiele für Lösungsinnovationen aufgefasst werden. Da mit diesen Innovationen aber weitreichende Veränderungen und auch einige neue Nutzungsmöglichkeiten verbunden waren, können diese Innovationen auch als radikale Innovationen bezeichnet werden. Ähnlich verhält es sich mit Elektroautos, mit denen gerade das Ende des Verbrennungsmotors eingeläutet wurde.

Bei Innovation muss es sich im Übrigen keineswegs immer um Produkt- oder Dienstleistungsinnovationen handeln, auch wenn diese Innovationen natürlich die größte Aufmerksamkeit erfahren. Auch das Geschäftsmodell (z.B. die Verlagerung des Buchhandels ins Internet durch Amazon), die Organisation (z.B. die Etablierung einer agilen Organisation bei Spotify) oder die Prozessgestaltung (z.B. ehemals die Einführung des Fließbands in der Automobilindustrie durch Henry Ford oder aktuell die zunehmende Automatisierung und Robotisierung von Produktionsprozessen in zahlreichen Unternehmen) können Gegenstand von Innovationen sein. 

Was ist eine soziale Innovation?

Der Begriff der sozialen Innovation ist bislang nicht eindeutig definiert bzw. abgegrenzt und wird daher auch uneinheitlich verwendet. Eine Gemeinsamkeit besteht jedoch tendenziell darin, dass es sich bei sozialen Innovationen um neue und gegenüber den bisherigen Praktiken bessere Antworten auf soziale bzw. gesellschaftliche Herausforderungen handelt, die nicht (primär) wirtschaftlichen Interessen, sondern sozialen Zwecken dienen und dazu geeignet sind, als vorbildlich anerkannt und institutionalisiert zu werden. Der letzte Aspekt macht deutlich, dass die Akzeptanz einer Idee und deren Umsetzung auch bei sozialen Innovationen letztlich darüber entscheidet, ob es sich tatsächlich um eine Innovation handelt. 

Mit sozialen Innovationen sind nicht nur Innovationen im Bereich der Sozialwirtschaft gemeint, sondern alle Arten sich verändernder sozialer Praktiken, die zu einem verbesserten Umgang mit sozialen bzw. gesellschaftlichen Herausforderungen beitragen und als Facetten des sozialen Wandels verstanden werden können. In diesem Sinne können beispielsweise neue Formen des nachhaltigen Konsums, wie etwa Urban Gardening- oder Food-Sharing-Projekte, ebenso als soziale Innovationen aufgefasst werden, wie die Open-Source-Bewegung, deren bekanntestes Beispiel Wikipedia ist, oder neue soziale Dienstleistungen. Bei den Initiatoren von sozialen Innovationen kann es sich daher auch um ganz unterschiedliche Akteure bzw. Akteursgruppen, wie etwa die von einer Herausforderung direkt betroffenen Personen, Bürgerinitiativen, Verbände, Wirtschaftsunternehmen oder soziale Organisationen, handeln. Insofern können soziale Innovationen sowohl „von oben“, z.B. durch politische Initiativen, als auch „von unten“ als „Graswurzel-Bewegung“ angestoßen werden. Oftmals etablieren sich soziale Innovationen zunächst in „gesellschaftlichen Zwischenräumen“ (Eva von Redecker), in denen sich alternative soziale Praktiken erst beweisen, d.h. erprobt, wiederholt und verstetigt oder revidiert werden müssen, um entweder wieder zu verschwinden oder zum „Mainstream“ zu werden. Soziale Innovationen stehen mit sozialem Wandel in einem engen Zusammenhang, dürfen jedoch nicht mit sozialem Wandel gleichgesetzt werden. Sie sind vielmehr sowohl Ausdruck wie auch Antrieb des sozialen Wandels, d.h. sie stellen einerseits Antworten auf den sozialen Wandel dar, zeigen andererseits aber auch neue Denk- und Handlungsmöglichkeiten auf, die für die Intensität und Richtung des sozialen Wandels folgenreich sein können. 

Wenn einschränkend von sozialen Innovationen in der Sozialwirtschaft die Rede ist, so sind damit diejenigen soziale Innovationen gemeint, die dem Markt der sozialen Dienstleistung mit seinen besonderen Merkmalen und Rahmenbedingungen zugeordnet werden können. Sie stellen somit einen Teilbereich des breiten Spektrums sozialer Innovationen dar, dessen Abgrenzung von anderen sozialen Innovationen jedoch nicht immer ganz eindeutig möglich ist.

Megatrends und Innovationsfelder

Zu den wichtigsten gesellschaftlichen Herausforderungen zählen die „Megatrends“ Digitalisierung, Demografie, Individualisierung, Urbanisierung, Wandel der Arbeitswelt, gesellschaftliche Disparitäten und Neo-Ökologie. Diese und andere „Megatrends“ führen zu tiefgreifenden Umwälzungen in allen gesellschaftlichen Teilbereichen und betreffen daher in ihren jeweiligen Ausprägungen natürlich auch und nicht zuletzt die Sozialwirtschaft. Daneben zeichnen sich in der Sozialwirtschaft aber auch verschiedene branchenspezifische Trends ab, die teilweise als Subtrends der genannten Megatrends aufgefasst werden können. Hierzu zählen insbesondere die Stärkung des Rechts auf Selbstbestimmung der Nutzerinnen und Nutzer sozialer Dienstleistungen (z.B. mit dem „persönlichen Budget“ als Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe), die zunehmende Flexibilisierung der Angebote und Dienstleistungen und damit einhergehend die steigende Komplexität des vorzuhaltenden Angebotsspektrums, die Forderungen nach einer wirkungsorientierten Steuerung  sozialer Dienstleistungen sowie die Überwindung sektoraler Grenzen (z.B. in Form von neuen Kooperationsformen zwischen Akteuren verschiedener gesellschaftlicher Teilbereiche und dem Ineinandergreifen verschiedener Hilfesysteme). Jeder dieser Trends birgt eine Vielzahl an Herausforderungen, auf die soziale Organisationen neue Antworten finden müssen. An Aufgaben mangelt es daher derzeit also nicht. Als wichtigste Leitkonzepte der Sozialwirtschaft dürften dabei nach wie vor die Öffnung zum Sozialraum, Inklusion, Prävention sowie die Orientierung am Grundsatz „ambulant vor stationär“ die Richtung sozialer Innovationen in der Sozialwirtschaft bestimmen. 

Beispielhafte Preise für soziale Innovationen

Die Meinungen zu der Frage, ob bzw. in welchem Ausmaß die Sozialwirtschaft als „innovativ“ bezeichnet werden kann, gehen weit auseinander. Eine Möglichkeit, sich einen Eindruck von der „Innovationskraft“ einer Branche zu verschaffen, sind Innovationspreise, Benchmarks oder Wettbewerbe. In der deutschen Sozialwirtschaft hat sich bislang zwar noch kein bedeutender branchenweiter Innovationspreis etabliert, ein gewisser Stellenwert kommt aber beispielsweise dem Sozialpreis „Innovatio“ zu, mit dem bereits seit 1998 im Rhythmus von zwei Jahren innovative Projekte aus dem Bereich der Diakonie und der Caritas prämiert werden (vgl. http://www.innovatio-sozialpreis.de),

Bei der letzten Preisvergabe im Jahr 2017 fiel die Wahl auf das Projekt „Gefangene helfen Jugendlichen“.Bei diesem Projekt werden junge Menschen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, durch inhaftierte und ehemalige Straftäter mit dem Alltag im Gefängnis konfrontiert. Darüber hinaus bietet der Verein, der an verschiedenen Standorten in Deutschland vertreten ist, u.a. auch Suchtprävention durch ehemalige Suchtkranke sowie Anti-Gewalt- und Deeskalationstraining an. 

Den Innovatio-Publikumspreis, der durch eine Online-Abstimmung ermittelt wurde, gewann 2017 das Projekt „wort.los“ der Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie Fulda, bei dem es darum geht, über unterschiedliche Materialien und Medien das Lernen von Gebärden für jeden auf einfache Weise zu ermöglichen und damit die „Unterstützte Kommunikation“ in den Werkstätten und Wohnheimen der Caritas-Behindertenhilfe zu stärken.

Der wohl älteste Preis für soziale Innovationen in Europa ist die in Österreich seit 2005 verliehene "SozialMarie" (vgl. https://www.sozialmarie.org/de). Ausgezeichnet werden Projekte aus Österreich, Ungarn, Tschechien und der Slowakei. Für Projekte aus Polen, Kroatien, Slowenien und Deutschland gilt, dass diese nicht weiter als 300 km Luftlinie von Wien entfernt  angesiedelt sein dürfen. Zur Teilnahme berechtigt sind Privatpersonen, kommerzielle Unternehmen, zivilgesellschaftliche Initiativen, NGOs, NPOs, Vereine und die öffentliche Verwaltung. Die SozialMarie ist allerdings nicht auf soziale Innovationen aus der Sozialwirtschaft beschränkt, sondern richtet sich an Projekte aus allen Sektoren, die innovative Lösungen für gesellschaftliche Problematiken anzubieten haben.

Im Jahr 2019 wurden 33 Projekte mit sehr unterschiedlichen Anliegen und Innovationsgraden nominiert. Hierzu zählten beispielsweise ein türkischsprachiges Erzählcafé für (werdende) Mütter, ein Kartenspiel über Frauen, die herausragende gesellschaftliche Beiträge geleistet haben, ein Begegnungsgarten, eine Genossenschaft für gemeinwohlorientierte Finanzdienstleistungen, ein Online-Buchungssystem für Hebammenleistungen, ein Projekt zur Linderung von Wohnungsnot, bei dem eine Agentur vorrangig in Budapest zwischen Wohnungslosen und privaten sowie kommunalen Wohnungspartnern*innen vermittelt und u.a. mit mobilen Häusern und Kleinsthäusern („Tiny Houses“) bezahlbare Mietverhältnisse schafft, ein Schulungsprogramm für posttraumatisch belastete Kinder und ein Wohnprojekt für Menschen mit psychischer Erkrankung vom 16. bis zum 25. Lebensjahr. 

Die Preisträger wurden am 01. Mai 2019 bekannt gegeben. Mein persönlicher Favorit, das Projekt zur Linderung von Wohnungsnot („Social Rental Agency“), wurde mit dem dritten Preis ausgezeichnet. Der erste Preis ging an „The Omama Project“, bei dem Frauen, die in einer slowakischen Roma-Siedlung leben, in Methoden zur kindlichen Frühförderung geschult werden und als „Omamas“ in von Armut betroffenen Familien zu einer gesunden Entwicklung der Kinder zwischen 0 und 3 Jahren beitragen. Den zweiten Preis gewann die bereits erwähnte Genossenschaft für gemeinwohlorientierte Finanzdienstleistungen, die sich selbst als Plattform für gemeinwohlorientierte Menschen und Organisationen rund um das Thema Geld und Finanzen versteht und mit verschiedenen Finanz-, Bildungs- und Demokratieleistungen erreichen möchte, dass Geld wieder den Menschen dient und vom Zweck wieder zum Mittel wird.

Zur fachwissenschaftlichen Debatte um den Begriff der sozialen Innovation

Soziale Innovationen sind neuartige soziale Praktiken (Neuartigkeit des Lösungsprinzips), die zu einer verbesserten Bewältigung (Wertbezug) sozialer Probleme (Problembezug) beitragen und sich als neue Praktiken auch durchsetzen und etablieren können (Diffusion). In der fachwissenschaftlichen Debatte wird verschiedentlich kritisiert, dass sich kaum eines dieser Merkmale theoretisch hinreichend konkret bestimmen lässt, so dass der Begriff der sozialen Innovation als Leitidee für soziale Entwicklung bzw. für die Sozialwirtschaft insgesamt ungeeignet erscheinen würde (vgl. z.B. Hofbauer, R. (2016). Soziale Innovation als neues Leitbild für soziale Entwicklung?. Zeitschrift für Zukunftsforschung, 1, 5. (urn:nbn:de:0009-32-44841), http://www.zeitschrift-zukunftsforschung.de/ausgaben/2016/ausgabe1/4484, abgerufen zuletzt am 05.05.2019)

Wie etwa lassen sich soziale Probleme von anderen Problemen abgrenzen? Wie lässt sich der Grad der Neuartigkeit, den eine soziale Praktik aufweisen muss, exakt bestimmen, damit sie als innovativ gelten darf, zumal es sich bei neuen Lösungen ja letztlich immer um relativ neue Lösungen handelt? Welche Perspektive ist entscheidend für die Frage, ob es sich bei einer sozialen Praktik um eine neue Praktik handelt, d.h. für wen (die Nutzer, die soziale Organisation, die Gesellschaft...) muss eine „neue“ soziale Praktik eigentlich neu sein? Anhand welcher Kriterien lässt sich beurteilen, ob eine neue soziale Praktik tatsächlich zu einer verbesserten Problemlösung - und nicht etwa nur zu einer anderen Art der Problemlösung – führt? Und auch hier die Frage: Wer entscheidet darüber? Insbesondere dann, wenn eine soziale Innovation zu Konflikten führt, weil sie mit Nachteilen für andere, nicht adressierte Beteiligte verbunden ist? Ab welchem Grad der Verbreitung einer neuen sozialen Praktik kann davon gesprochen werden, dass sich diese tatsächlich „durchgesetzt“ hat und anhand welcher Kriterien kann dieser Grad gemessen werden? 

Diese und weitere kritische Fragen sind durchaus begründet und fordern zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Begriff der sozialen Innovation heraus. Für einige der genannten Fragen wurden aber bereits Vorschläge entwickelt, die es zu diskutieren und ggf. weiter zu entwickeln gilt. Zudem muss bei all dem berücksichtigt werden, dass es sich bei der Etablierung von sozialen Innovationen um einen gesellschaftlichen Verständigungsprozess handelt, bei dem es neben Gewinnern auch Verlierer, nicht intendierte Effekte und Momente der Rückbesinnung geben kann. Notwendige begriffliche Klärungen können jedenfalls kein Grund dafür sein, die Bedeutung von sozialen Innovationen für das Selbstverständnis der Sozialwirtschaft zu schmälern oder gar grundsätzlich in Frage zu stellen. Im Übrigen erinnert die Debatte ein wenig an die Auseinandersetzungen mit dem Begriff der Lebenswelt, der sich trotz aller Unschärfen in vielen Bereichen der Sozialen Arbeit als Leitbegriff bzw. -konzept etabliert hat.

Sofern die Soziale Arbeit tatsächlich dazu beitragen will, gesellschaftliche Veränderung und soziale Entwicklungen sowie Lösungen zur Bewältigung der daraus entstehenden sozialen Probleme mitzugestalten, muss es ihr ein zentrales Anliegen sein, soziale Innovationen zu fördern. Dem Anspruch nach kann die Bedeutung von sozialen Innovationen für das Selbstverständnis der Sozialwirtschaft daher kaum hoch genug angesetzt werden. Die Wirklichkeit scheint indes eine andere zu sein. Meinem Eindruck nach fällt es der Sozialwirtschaft - aller Bekenntnisse in diversen Positionspapieren zum Trotz – nach wie vor schwer, ihr Innovationspotential zu entfalten. Viele kleine Würfe ergeben eben nicht unbedingt in der Summe einen großen Wurf. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist das Problem der Wohnungsnot, das zu Recht von vielen zur zentralen sozialen Frage der Gegenwart erklärt wird. Doch viel mehr als die üblichen Kampagnen und Appelle sowie einige „Modellprojekte“, die allerdings kaum das Potential haben, sich als alternative soziale Praktiken zur Linderung der Wohnungsnot etablieren zu können, ist aus der Sozialwirtschaft nicht zu vernehmen. Ein anderes Beispiel ist die Digitalisierung, die von zu vielen verantwortlichen Akteuren der Sozialwirtschaft noch immer zwischen medienpädagogischem Problem und der Internetpräsenz der eigenen Organisation verortet wird. Wer aber den Grund für den Mangel an Innovationen in der Sozialwirtschaft vorrangig in innovationshemmenden Rahmenbedingungen und strukturellen Defiziten sucht, macht es sich zu leicht. Auch in der Sozialwirtschaft gilt die vielfach getroffene Aussage: Innovation entsteht in den Köpfen von Menschen, die etwas bewegen wollen. Und hierbei sollten unsere Vorbilder nicht etwa Steve Jobs, Jeff Bezos oder Elon Musk heißen, sondern vielleicht Andreas Heinecke, Jos de Blok, Lutz Karnauchow, Sina Trinkwalder, Hila Azadzoy oder Reza Solhi. Diese Namen sagen Ihnen wenig oder vielleicht sogar nichts? Höchste Zeit, das zu ändern und diese und weitere Namen zu entdecken!

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